Echt miese Stimmung

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Schon als Florian die Tür öffnete, konnte er sie hören. Laut. Unangenehm. Mutti fauchend. Vati sich fragwürdig verteidigend. Er würde abwiegeln, die Sache als nicht so schlimm hinstellen wollen. Eigentlich nur seine Ruhe haben. Wahrscheinlich ging es eh wieder einmal nur um irgendeine Banalität. Aber Mutti würde das nicht zulassen. Immer musste sie aus einer Mücke einen Elefanten machen. Sie konnte sich so richtig hineinsteigern in einen Streit. Florian fragte sich oft warum. Sie wollte natürlich Recht haben, wollte hören, dass sie richtig gehandelt hatte, dass sie jedenfalls nicht im Unrecht war. Und Vati, der meist tatsächlich Recht hatte, der es genau so wenig mochte, sich zu streiten, wie Florian, der würde früher oder später klein beigeben. Er würde Mutti wieder einmal gewinnen lassen. Dann würde Mutti sich wohl fühlen. Und auch ein kleines bisschen schämen. Sie würde anfangen zu überlegen und als Wiedergutmachung etwas Leckeres kochen, einen Ausflug organisieren oder für jeden eine Überraschung kaufen.

 

Doch Florian hatte keine Lust. Er verspürte nicht das geringste Verlangen nach diesen Wiedergutmachungsversuchen. Er wollte einfach nur, dass sie eine ganz normale Familie sein konnten. Bei Annika zu Hause gab es solche Szenen nicht. Ihre Eltern vertrugen sich immer. Ja, vielleicht hatten sie mal eine Meinungsverschiedenheit, so wie damals, als es um den Sommerurlaub ging. Frau Fröhlich wollte nach Mallorca, Herr Fröhlich meinte, da träfe man halb Deutschland an, er wolle nicht ins 17. Bundesland. Und Annika hatte eingeworfen, dass sie lieber in die Berge fahren wollte, statt ans Meer. Annika liebte es, wandern zu gehen, im Wald umher zu streifen, Blumen zu pflücken und zu Ketten zusammen zu fügen. Sie wusste mit Wasser nicht viel anzufangen. Schwimmen gehen konnte sie auch im städtischen Schwimmbad. Schließlich war sie im Schwimmverein. Herr Fröhlich hatte sich sofort auf die Seite seiner Tochter geschlagen. Er erzählte von einem tollen Wellnesshotel, über das er gelesen hatte. Es befand sich im Allgäu, gleich an der österreichischen Grenze. Da könne Frau Fröhlich sich ausgiebig massieren lassen und Heilbäder nehmen, Saunieren und schwimmen, so viel sie wollte. Wenn sie Lust hätte, dann könne sie auch mit Annika und ihm auf Wandertour gehen. Es gäbe so viele schöne Seen und die herrliche Luft in den Bergen wäre doch viel klarer und man würde sich viel freier fühlen, als an einem voll bepackten Strand voller schwitzender, eng an eng liegender Menschen, die in der Sonne glänzten wie Ölsardinen. Dann hatten Vater und Tochter die Mutter mit großen Augen angeschaut, während diese stumm zurückschaute. Ihr Gesicht war unbewegt gewesen. Manchmal schien es Florian, als wolle sie den Mund öffnen, etwas erwidern, sich durchsetzen. Dann zog sie die Stirn leicht in Falten. Aber nur ganz leicht. Für einen Moment wurde ihr Blick angestrengt, entspannte sich aber fast gleichzeitig zu einem Lächeln. Annika hatte die ganze Zeit die Faust vor Anspannung geballt gehalten, nun führte sie den angewinkelten Arm erst nach oben und zog ihn dann in siegessicherer Pose nach unten durch. Ein stummes „ja“ lag auf ihren Lippen und Herr Fröhlich gab seiner Frau einen Kuss. Warum konnte es bei ihm zu Hause nicht genau so sein?


Florian hatte die Haustür leise hinter sich ins Schloss gezogen. Er saß auf der untersten Treppenstufe im Hausflur und verfolgte den Ablauf im Wohnzimmer mit geschlossenen Augen. Er hätte jede Geste und jede Wendung im Gespräch seiner Eltern vorhersagen können. Er brauchte sie nicht zu beobachten. Zu oft hatte er die Bilder gesehen. Jetzt liefen sie ganz automatisch wie ein Film vor seinen Augen ab. Mutti lief hektisch vor der Schrankwand hin und her. Dabei blies sie nebligen Zigarettenqualm in die Luft. Er hatte sich immer gefragt, wie sie gleichzeitig rauchen, atmen und reden konnte. Er hatte es heimlich einmal ausprobiert und sich furchtbar dabei verschluckt. Außerdem hatte der Qualm in seiner Kehle und seinen Lungen gebrannt und gezwickt und ganz furchtbar geschmeckt. Vati hingegen saß hilflos auf der Couch. Ab und zu fuchtelte er mit den Armen, um seine Argumente zu unterstreichen. Aber er ließ sie immer schnell wieder sinken, so dass die Schulten zum Schluss nach unten hingen. Er schaute dann aus wie ein mit Wasser übergossener, viel zu großer Schuljunge. Dass das Bild nicht weit hergeholt war, wusste Florian ganz genau. Dem Rainer aus der elften Klasse war es erst vor ein paar Wochen so gegangen. Dirk und seine Gang hatten ihn in eine Ecke vom Schulhof gedrängt, ihn regelrecht eingekesselt. Dann hatten sie mehrere Flaschen Wasser über ihm ausgeschüttet. Es war eine Strafe dafür, dass sich Rainer wie ein Schlappschwanz benommen hatte. Er hatte nämlich nicht mitgeholfen, als Dirk und seine Freunde dem kleinen Moritz aus der fünften die Jacke falsch herum angezogen und ihm die Schnürsenkel zusammengebunden hatten. Sie fanden das einen großen Spaß und lachten sich fast scheckig darüber. Aber Rainer hatte ihnen zugerufen, sie sollen sich nicht an kleinen Kindern vergreifen und dann der Pausenaufsicht Bescheid gesagt. Deshalb waren Dirk und Co drei Tage von der Schule suspendiert worden und jeder hatte einen Verweis bekommen. Und weil Dirk jetzt nur noch eine letzte Ermahnung bräuchte, um von der Schule zu fliegen, da hatten sie es Rainer eben heimgezahlt, sie so verraten zu haben. Doch Rainer war ganz ruhig geblieben. Er hatte die Demütigung hingenommen. Genauso wie Vati. Er hatte sich selbst nicht verteidigt, und Florian hatte sich gefragt, warum. Warum war er wegen dem Moritz dazwischen gegangen und hatte für sich selbst keinen Mut übrig? Oder war es vielleicht mutig, sich so zu verhalten?


Florian schüttelte vorsichtig den Kopf. Er konnte die Geschehnisse nicht richtig einordnen. Weder die auf dem Schulhof, noch die zu Hause. Er wünschte sich manchmal, dass er Annikas Bruder wäre. Dann könnte er in dem gemütlichen kleinen Haus wohnen, würde in die Familienentscheidungen mit einbezogen und müsste nicht immer nur von seinem Beobachterposten alles in sich aufsaugend seinen Mund halten. Er wollte eine Stimme. Er wollte mitreden können, mitbestimmen. Aber am allermeisten wollte er, dass diese ewigen Streitereien aufhörten. Er verstand nicht, was diese überhaupt auslöste. Wenn er sich ganz fest konzentrierte, dann konnte er die Erinnerungen an die gemütlichen Familienabende vor ein paar Jahren noch heraufbeschwören. Er saß zwischen seine Eltern gekuschelt auf der Couch. Sie schauten gemeinsam einen Film und aßen frisches Popcorn. Mutti war damals nie so schlecht gelaunt, wie jetzt meistens. Sie kochte immer frisches Essen zum Abendbrot, wenn alle drei gemeinsam am Tisch saßen. Vati erzählte von seiner Arbeit im Büro und Florian von der Schule. Nach dem Abendessen räumten sie gemeinsam die Küche auf. Manchmal spielten sie noch ein Spiel, aber meistens kuschelten sie eben auf dem Sofa.


Doch vor einem Jahr war alles anders geworden. Vati kam abends oft spät nach Hause. Mutti hatte immer öfter schlechte Laune. Dann fingen die Streitereien an. Florian hatte nicht gewusst, dass seine Mutti so keifen konnte. Er hatte das einmal in einem der Märchenfilme gesehen, die sie zusammen geschaut hatten. Da war eine böse alte Hexe vorgekommen. Die hatte auch ständig nörgelnd vor sich her geschimpft. Nie konnte ihr jemand etwas Recht machen. Wenn sie die Nase von einem anderen voll hatte, weil der nicht tat, was sie wollte, dann verwandelte sie ihn einfach in eine hölzerne Miniatur. Sie hatte schon ein ganzes Regal voller dieser Figuren. Männer und Frauen und Kinder in den verschiedensten Positionen, von Überraschung bis Erstaunen, von Angst bis Hass und einfacher Sprachlosigkeit. Manche hatten den Mund weit offenstehen, bei anderen war er furchtbar verzerrt. Aber am Schlimmsten waren die Blicke der Figuren gewesen. Diese Blicke hatten Florian damals lange in seinen Träumen verfolgt. Manchmal hatten seine Eltern im Traum heute diese Blicke in den Augen. Traurig. Fassungslos. Betreten. Die Angst und die Wut, die Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit waren in seinen Träumen fast greifbar.


Aus dem Wohnzimmer floss Gift zu ihm herüber. Es kam auf den Rauchschwaden der Zigaretten geritten, umgab ihn, hüllte ihn ganz ein. Er spürte die Verzweiflung und den Schmerz seiner Eltern, beider Eltern. Die Verzagtheit und Scham seines Vaters, den kalten Zorn und die Verzweiflung seiner Mutter. Er wünschte sich so sehr, dass er ihnen helfen könnte. Dass er diese kalte Erstarrung der beiden irgendwie durchbrechen könnte. Er wollte so sehr, dass sie wieder zu einander fanden, dass sie wieder fröhlich mit einander sein könnten. Vielleicht würden sie ihn dann auch wieder wahrnehmen. Vielleicht könnten sie dann auch gemeinsam in den Urlaub fahren, wandern gehen, im Wellnesshotel entspannen. Doch er saß selbst wie versteinert auf der Treppe. Er hatte einmal nachgefragt, warum sie sich denn immer so stritten. Aber seine Mutter hatte nur geschrien, dass müsse er seinen Vater fragen und sein Vater hatte gemeint, er wäre noch zu jung, um das zu begreifen. Aber Florian glaubte, er würde ganz gut verstehen, warum die Stimmung in der Familie gekippt war. Er hatte es aus den vielen Streitereien herausgehört und oft mit Annika besprochen. Diese Frau war schuld. Die Frau aus Vatis Büro. Frau Steiger hieß sie. Sie war sehr hübsch. Sie trug schöne Kostüme und hatte die Haare am Hinterkopf so faszinierend zusammengedreht. Als sein Vater sie einmal mit nach Hause gebracht hatte, da hatte Florian sie riechen können. Sie roch ganz wunderbar. Nach einer Mischung aus Rosenöl und einer Sommerwiese. Es war an jenem Tag, als Florians Mutter zum ersten Mal ausrastete. Damals war ihr anfängliches Schweigen in dieses ständige Gezeter umgeschlagen. Doch Florian konnte seinen Vater verstehen. Er konnte nachvollziehen, dass er Frau Steiger gernhatte. Vielleicht ein bisschen zu gern.


Aber er hatte doch auch Mutti lieb. Florian glaubte ganz fest daran. Nein, er glaubte es nicht nur, er wusste es. Konnte Mutti das denn nicht sehen? Wie gern der Vati sie hatte? Nein, er konnte das auf keinen Fall auch nur einen einzigen Tag länger ertragen.


Er löste sich aus seiner Erstarrung. Langsam, Schritt für Schritt ging er hinüber ins Wohnzimmer. Es schien eine Ewigkeit zu dauern. Eine Ewigkeit, die ihn vergessen ließ, zu atmen, zu denken, zu fühlen. Alles war ganz taub in ihm. Ein riesiger Kloß verstopfte ihm die Kehle. Er konnte das nicht. Sie würden ihm doch nicht zuhören. Niemals würden sie auf ihn achten. Und dann stand er da. Genau in der Mitte, zwischen Schrankwand und Sofa. Zwischen Zigarettenrauch und Whiskeyglas. Zwischen Zorn und Verachtung. Zwischen Scham und Angst. Er stand da und sie schauten ihn an. Sie hatten nicht mit seiner Anwesenheit gerechnet. Er hatte sie zum Schweigen gebracht und mitten hinein in dieses Schweigen rollten seine Worte. Laut und klar und deutlich. Sie sprudelten einfach so aus ihm heraus.


   

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