Ein ganz normaler Sommertag

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Bleigrau und träge lag der Fluss. Nur ein einsamer Schwan war zwischen den Schiffen am Ufer zu sehen. Vom stahlblauen Himmel stach erbarmungslos die Sonne und der Saharawind bohrte sich tief in die Poren meiner Haut. Mein ganzer Körper war mit einem feuchten Schweißfilm überzogen. Das fröhliche Lärmen von Händlern und Touristen, das sich für gewöhnlich unter meinem Fenster abspielte, war verstummt. Nur ab und zu pries ein Marktschreier seine Waren an. Doch die Laute kamen gedämpft und ohne rechte Leidenschaft. Die ganze Stadt erstarb unter der ungewöhnlichen Dunstglocke, die nichts hinterließ als Staub und Schweiß und verbrannte Wiesen.


Warum ich mich dennoch aus dem Bett quälte und in den Bus stieg, wird mir wohl für immer ein Rätsel bleiben. Dass der Bus überhaupt fuhr, überraschte mich, aber deutsche Pünktlichkeit und Disziplin ließen sich selbst von dieser hitzigen Heimsuchung nicht auslöschen. Überhaupt war die Stadt bei weitem nicht so leblos, wie ich aufgrund der fehlenden Alltagsgeräusche angenommen hatte. Gleich um die Ecke meines Hauses, drang mit einem heftigen Pochen das plötzlich einsetzende Hämmern eines Schlagbohrers in mein Hirn. Die Bauarbeiter, die nichts weiter anhatten, als kurze Hosen, Sicherheitsschuhe und Warnwesten, gingen ihrer Auftragsarbeit genauso nach, wie die Verkäufer in der Ladenstraße und die Angestellten in den Büros, an denen der Bus vorbeifuhr.


Über eine kleine Brücke schwenkte der Bus nun ab auf die Autobahn, die parallel zum Fluss verlief. Ich starrte zum Fenster hinaus auf das undurchsichtige Wasser. Anders als am Ufer in der Stadt gab es hier keine vertäuten Schiffe. Stattdessen verlief links vom Fluss ein Radweg, dessen Teerbelag in der Hitze flimmerte. Die rechte Flussseite war von kleinen Gärten gesäumt. Blumen, vor allem Rosen und Hortensien, reckten ihre stolzen Blüten auf langen Stängeln in die Höhe. Sie trotzten der sengenden Sonne, gut gewässert von liebevollen Züchtern. Ihre Farben in rot und weiß, rosa, gelb und bläulich-violett wirkten strahlend und kraftvoll.


Zwischen all dieser Pracht entdeckte ich eine abgebrannte Hütte. Der gesamte Garten war verwildert. Die verkohlten Überreste des Schuppens oder Gartenhäuschens wirkten bedrohlich. Einer der Eckpfeiler hielt sich wacker aufrecht. Er erinnerte mich an einen drohenden Zeigefinger, doch sein Einschüchterungsversuch wirkte lahm und die Schönheit der angrenzenden Parzellen ließen ihn lächerlich erscheinen.


Für einen Moment fragte ich mich, wie man nur so lieblos mit der Natur umgehen konnte, aber der Gedanke entflog so schnell wie der Garten aus meinem Blickfeld. Ersatzweise schob sich ein langgestreckter grauer Stahlbetonriese ins Bild. Noch so eine Landschaftsverschandelung. Mitten im Grünen. Eine Frechheit. Ich wollte gar nicht erst wissen, wer ihn einst dahin gepflanzt hatte. Heute jedenfalls beherbergt er eine industrielle Fertigungsanlage zur Verarbeitung von Stahl. Hoch lebe die Automobilindustrie. Tatsächlich konnte ich durch die offenen Seitentore die Arbeiter in ihren blauen Overalls sehen. Auch ihre Bewegungskraft schien auf ein Minimum reduziert, während im Hintergrund eifrige Maschinen schnelle, fast fahrige Gesten ausführten, ungerührt der grausamen Hitze, die sich trotz der offenen Rolltore im Inneren des Gebäudes stauen musste.


Das Bild machte mich durstig. Ich nahm meine Wasserflasche aus der Tasche und trank. Gierig. Zuerst. Später saugte ich gedankenverloren am Flaschenrand. Als ich mir dessen bewusst wurde, schämte ich mich. Ich blickte mich verstohlen im Bus um, doch die anderen Fahrgäste interessierten sich nicht im Geringsten für mich. Sie waren damit beschäftigt, vor sich hinzudösen oder sich eifrig Luft zuzufächeln. Eine junge Frau las tief versunken in einem Buch. Sie hatte ein wunderschönes Gesicht. Am Kinn ein bisschen spitz zulaufend. Die Haut war von Sommersprossen bedeckt. Der Blick ihrer grünen Augen tanzte unablässig über die Seiten des Buches. Die Geschichte schien spannend zu sein. Ich beobachtete sie eine kurze Weile, dann fiel eine lockige Strähne bräunlichen Haares wie ein Vorhang über die mir zugewandte Gesichtshälfte. Als sie die Strähne zurückstrich, bemerkte sie meinen Blick. Wahrscheinlich hatte ich sie regelrecht angestarrt. Sie schaute entnervt zurück. Ich schämte mich und drehte mich schnell wieder zum Fenster um.


Der Bus war mittlerweile von der Autobahn heruntergefahren und tuckerte nun gemächlich durch einen Vorort. Noch eine Haltestelle und dann würde ich aussteigen und zum Flussufer hinunterlaufen. Ich freute mich schon jetzt wie ein kleines Kind darauf, die geheime Stelle unter der großen Trauerweide zu finden, an der der Fluss dem Land im Lauf der Zeit einen kleinen Pool abgerungen hatte. Dort würde ich es mir im Schatten bequem machen, die Füße ins Wasser baumeln lassen und die jungen Stockenten beobachten.


Ein lauter Knall und ein heftiges Rucken im Bus schreckten mich aus meinen Träumereien. In unkontrolliert schlingernden Bewegungen kurvte der Bus über die Straße. Der Busfahrer trat dabei offensichtlich heftig auf die Bremsen und brachte ihn mit nur zwei Zentimeter Abstand von einer Hausmauer zum Stehen. Die Fahrgäste wurden ordentlich durchgeschüttelt. Ein junges Mädchen, das geschlafen hatte, war von der letzten jähen Bewegung mit dem Gesicht gegen die Sitzlehne vor ihr geschleudert worden. Ihre Nase blutete heftig. Wahrscheinlich war sie gebrochen. Jemand schrie, es müsse ein Krankenwagen gerufen werden. Das Mädchen selbst sagte keinen Ton. Es schien in Schockstarre zu verharren. Die schöne Leserin kniete bereits vor ihr und presste ihr liebevoll ein Taschentuch an die Nase. Es färbte sich sofort rot. Der Busfahrer rief über Funk die Zentrale. Von irgendwo her tönte ein grässliches Sirenengeräusch. Eine ältere Frau wedelte aufgeregt mit ihrem Fächer und schien kurz vor einer Ohnmacht. Da hielt ihr auch schon ein junger Mann, vielleicht ein Student, freundlich seine Wasserflasche entgegen. Ich würde wetten, sie hätte lieber einen Pflaumenschnaps getrunken.


Rings um den Bus hatte sich nun schon eine kleine Versammlung Neugieriger eingefunden. Ein energischer Herr schob sich durch die offene Tür in den Mittelgang des Buses und lief zielstrebig auf mich zu. Ich wollte schon protestieren und fragen, was er denn von mir wolle, mir fehlte ja nichts. Sein Gesicht war jedoch so ernst und sein Blick so angestrengt, dass ich den Mund hielt. Er rauschte an mir vorbei. Im hinteren Teil des Busses schien noch jemand verletzt zu sein. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass da noch ein Fahrgast war, und drehte mich um, um dem energischen Mann hinterherzuschauen. Am Boden lag eine Person. Ich konnte zunächst nur die Schuhe sehen. Sie sahen aus, wie meine. Ich fand das aus irgendeinem Grund irre komisch, denn ich hätte nicht gedacht, dass da draußen noch jemand mit so ausgelatschte Ledersandalen besitzen würde. Das erregte meine Neugier. Vielleicht wäre es ja auch an der Zeit, dass ich meine Hilfe anbot. Ich stand auf und lief nach hinten.


Der energische Mann war über den Körper des Verletzten gebeugt. Eine korpulente Frau im blumigen Sommerkleid wimmerte leise vor sich her. „Er war gerade aufgestanden und zur Tür gegangen, als der Reifen geplatzt sein muss. Die Erschütterung hat ihn nach hinten geschleudert. Ich konnte das Knacken deutlich hören, als sein Kopf neben mir auf die Lehne gedonnert ist.“ Sie schnäuzte sich lautstark in ein Taschentuch. Armer Teufel, dachte ich. Hoffentlich überlebt das der Kerl. So was aber auch. Ein geplatzter Reifen. Da hätte ich auch selbst draufkommen können. Heißer Gummi auf heißem Teer. Das kann schon mal vorkommen. Ich war froh, dass ich sitzengeblieben war, auch wenn ich dadurch beinahe meine Haltestelle verpasst hätte. Ich schüttelte den Kopf über so viel unverschämtes Glück und drehte mich nun endgültig zu dem Verletzten um. Der energische Mann rückte ein bisschen zur Seite und ganz kurz, bevor ein großes Taschentuch, das er aus seiner Hose zog, über das Gesicht des Toten breitete, erkannte ich mich selbst.    

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